Rezension Blagen-Kalender 2019

von Frank Becker, Musenblätter 13.09.2018:

https://www.musenblaetter.de/artikel.php?aid=23106&neu=1

Blagen 2019

Wieder ein wundervoller Kalender aus dem assoverlag
der ein Stück Kindheit von gestern zurückbringt.

Die „Blagen“-Kalender aus dem Oberhausener assoverlag gehören seit vielen Jahren mit gleichbleibendem Erfolg zum Schönsten der deutschen Erinnerungskultur. Dank des hervorragenden Fotoarchivs der Sammlung der Stiftung Ruhr Museum Essen können die Herausgeber Jahr für Jahr aus einem schier unglaublichen Schatz an Alltagsfotografie der 50er und 60er Jahre schöpfen.

„Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus welchem wir nicht getrieben werden können“, schreibt Jean Paul 1793 in «Die unsichtbare Loge». Diese Erkenntnis war sicher schon damals nicht neu, er aber hat es auf den literarischen Punkt gebracht. Eine weitere, mittlerweile ebenfalls schon topisch gewordene Sentenz ist ein Werbe-Jingle des Rundfunksenders WDR 4: „Schönes bleibt…“. In der Tat, Schönes bleibt uns im Archiv unserer Erinnerungen, vor dem Auge und im Ohr. Wir benötigen oft nur einen kleinen Anstoß, einen Duft, eine Melodie, ein Bild, um quasi in Cinemascope das Schöne, das wir im Herzen bewahrt haben, nicht nur wieder zu sehen – wir erleben es noch einmal.

Schönes bleibt

Der Oberhausener assoverlag hat auch für 2019 in Kooperation mit dem Ruhrlandmuseum Essen Fotografien aus dessen Archiv zu einem Kalender zusammengestellt, dessen je zwölf großformatige Monatsblätter jenen in Streiflichtern eine Zeit zurückbringen, die sie noch miterlebt haben, allen jüngeren Generationen ein Schatz an Information und Impression schenken, die heute eine völlig neue, andere, schnellere Zeit erleben. Ich spreche von den 30er bis 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, einer Zeit, die im verheerenden Sog der beiden Weltkriege und ihrer Folgen jeweils die individuelle Bereitschaft zum Aufbau und zum Frieden forderte. Der Mensch zählte. Die Bilder sind friedvoll, sparen Eindrücke des Dritten Reichs und des 2. Weltkrieges bewußt aus. Davon ist anderenorts reichlich geschrieben, gesagt und gezeigt worden. Das Häßliche darf auch mal ausgelassen werden. Schönes bleibt.

Überwiegend aus den 50er Jahren stammen die stimmungsvollen Duotone-Fotografien des Kalenders „Blagen – 2019“, die ein Jahr lang Blatt für Blatt nachzeichnen, wie es damals war und einen Eindruck vermitteln, wie die Welt, das tägliche Leben damals zwischen Oberhausen und Hamm, Hagen und Recklinghausen, Duisburg und Dortmund aussah. In technisch hervorragenden Aufnahmen und allerfeinstem Druck sehen wir, mit welch einfachen Mitteln und unaufwendigen Spielen und Beschäftigungen die Kinder („Blagen…“) im Revier eine heitere und durchaus glückliche Kindheit hatten. Das ging noch ohne Markenklamotten, allerneueste Unterhaltungselektronik, das allgegenwärtige Mobiltelefon. Im Schatten der Fördertürme Kaffekränzchen mit Puppengeschirr halten, am Kanal spielen, auf Bäume klettern und träumen – oder mit glänzenden Augen auf den Weihnachtsbaum schauen …ging auch. Auf dem Titelblatt darf einer Papas Fernglas ausprobieren, im April werden Schäfchen gestreichelt, Im Mai wird unter Mädels fürstlich getafelt und im Oktober an Papas Hand artig und fein herausgeputzt der Sonntagsspaziergang gemacht. Tort Regen, wohlgemerkt.

Das August-Bild erinnert an die Schule, wie sie einmal war und im Dezember leuchten die besagten Kinderaugen unter dem Weihnachtsbaum. Da sind sie wieder – die herrlichen Szenen einer so nahen und doch so weit entfernten Zeit! Es ist weniger verblüffend als erschreckend, welche Kluft die technische „Aufrüstung“ zwischen jener Zeit und heute – es sind nur 60 Jahre vergangen! – hat aufreißen können. Das Bild unserer Gesellschaft hat sich vor allem durch das Drängen wirtschaftlicher Interessen von Grund auf verändert. Kinderspiele, Freizeitgestaltung, Nachbarschaftlichkeit… Vieles ist verschwunden, anderen, schrilleren Vergnügen gewichen. Bescheidenheit ist nicht gefragt, das Miteinander anscheinend auch nicht. Vor allem junge Leute schließen sich ein in eine Welt, zu der andere, zumal Ältere keinen Zugang mehr bekommen. Knopf im Ohr, umgeben von einer undurchdringlichen musikalischen Hülle, den Blick starr auf die Anzeige des Mobiltelefons gerichtet, durchtaumeln sie eine Welt, die ihnen selber fremd bleibt. Die ganz Kleinen scheinen noch nicht vom elektronischen Virus erfaßt, doch auch sie werden sich bald in dessen Sklaverei begeben.

Ruhe der Kindheit

Friedrich Hölderlin hat das 1797 in seinem „Hyperion“ beschrieben:

„Ruhe der Kindheit! himmlische Ruhe! wie oft steh´ ich stille vor dir in liebender Betrachtung, und möchte dich denken! (…) Ja! ein glücklich Wesen ist das Kind, solang es nicht in die Chamäleonsfarbe der Menschen getaucht ist. – Es ist ganz was es ist, und darum ist es so schön. Der Zwang

des Gesetzes und des Schicksals betastet es nicht! im Kind ist Freiheit allein. – In ihm ist Frieden! es ist noch mit sich selber nicht zerfallen. Reichtum ist in ihm; es kennt sein Herz, die Dürftigkeit des Lebens nicht. Es ist unsterblich, denn es weiß vom Tode nichts.

Aber das können die Menschen nicht leiden. Das Göttliche muß werden, wie ihrer einer, muß erfahren, daß sie auch da sind, und eh es die Natur aus seinem Paradiese treibt, so schmeicheln und schleppen die Menschen es heraus, auf das Feld des Fluchs, daß es wie sie im Schweiße des Angesichts sich abarbeite.

Aber schön ist auch die Zeit des Erwachens, wenn man nur zur Unzeit uns nicht weckt.“

Kalender Blagen 2019

Wandkalender mit Fotos von Willy van Heekern, Anton Tripp, Marga Kingler, Rudolf Holtappel, Herribert Konopka

© assoverlag, 12 Monatsblätter Format 40 x 40 cm, ISBN: 978-3-938834-90-9

20,- €

Alle Fotos aus dem Ruhr Museum Essen

Weitere Informationen: www.assoverlag.de/

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